Das Dufour-Schulhaus / L' école Dufour 1903

Lehrer und Kinderpsychologe Hans Zulliger. Reproduktion aus Die Berner Woche, 8. 4. 1939
Lehrer und Kinderpsychologe Hans Zulliger. Reproduktion aus Die Berner Woche, 8. 4. 1939

Dr. h. c. med. und phil. Hans Zulliger (1893-1965), Lehrer, Schriftsteller, Berner Mundart-Lyriker, Heilpädagoge, Pionier der Kinder- und Jugendpsychologie

Schüler vom Progymnasium Biel von 1903 bis 1908
Die Eltern: Vater Alfred Zulliger (1865-15.5.1939) wurde als ältester Sohn einer Uhrmacherfamilie in Moutier im Berner Jura geboren. Von dort kam er als Schulkind nach Madretsch. Er erlernte den Beruf eines Remonteurs und arbeitete danach in der «Omega», wo ihm das Zeugnis eines flinken, zuverlässigen und exakten Arbeiters ausgestellt wurde. Zeitlebens erzählte er gerne von den damaligen schönen Zeiten in der Uhrmacherei. Alfred: «In der Fabrik war man nicht so angestellt, wie man heute angestellt ist. Es war noch nicht Pflicht, auf die Minute pünktlich zu erscheinen, die Kontrollmarke in die Kontrolluhr zu stecken und dann ebenfalls auf die Minute pünktlich die Arbeit niederzulegen und zu gehen. Es konnte vorkommen, dass die Leute den ganzen Tag fischen gingen und erst am Abend, spät in der Nacht, ihre Arbeit verrichteten.»[11] 

Vater Alfred Zulliger war einer von 1500 Mitarbeiter der Uhrenmanufaktur Omega in Biel.

  

Diamantenschleiferin Clara Zulliger
Diamantenschleiferin Clara Zulliger

Alfred Zulliger heiratete 1891 Clara Rosa De Simone (1869-14.2.1954), die als Diamantschleiferin bei der Firma Samuel Fuchs & Louis Monney, Diamantenstrasse 9, angestellt war. Im Gedicht «My Muetter» erwähnt Hans Zulliger, dass sie oft bis spät in die Nacht arbeitete. Sie war trotz ihrem hohen Arbeitspensum von fröhlicher Natur, sang viel und brachte den Kindern Verse bei.[23] Die Zulligers betrieben nebenbei Landwirtschaft, wobei ihnen ihre vier Söhne Hans (21.2.1893-18.10.1965), Werner (13.7.1899-1966), Albert (29.3.1904-8.3.1988) und Walter Robert (21.4.1910- 30.10.1990) halfen.[7]

Inzwischen hatte sich die Uhrenindustrie modernisiert. Spezielle Maschinen erledigten die Arbeit ebenso präzise, aber zwölfmal schneller als ein Handarbeiter. Trotzdem kam die Krise. Alfred wechselte den Beruf und fand in Biel Arbeit in der Reparaturwerkstatt der damaligen Jura-Simplon-Bahn. Seine Uhrmacherhände brauchte er nun für die Reparatur und Herstellung der Dampfheizungskupplungen, deren Konstruktion er übrigens zusammen mit Grossrat Kuenzi selbst erfunden oder zumindest wesentlich verbessert hatte. In dieser Zeit wohnte er im Bauerndorf Mett und war im «Adressbuch von Biel und Umgebung» als «Werkstattarbeiter» geführt. Im Männerchor Mett wurde er Vizepräsident. Alfred Zulliger beeindruckte seine Mitmenschen mit zahlreichen einfachen, aber genialen Erfindungen, obwohl ihm seine tüftlerische Begabung finanziell nichts einbrachte. Sein grösster Wunsch, dass aus seinen vier Söhnen etwas Rechtes werden sollte, ging in Erfüllung. Als der letzte sein Studium beendet hatte, ging er mit 67 Jahren in den Ruhestand.

Das Elternhaus in Madretsch am Hubelweg 14, Zustand 2025
Das Elternhaus in Madretsch am Hubelweg 14, Zustand 2025

Als eifriger Bastler und Imker lebte Alfred in seinem Haus in Madretsch am Hubelweg/Chemin de la Colline 14, dessen Grundriss er übrigens selbst entworfen hatte (wie schon zwei frühere Häuser). Zum Haus gehörte ein grosser Gemüse- und Blumengarten. Noch heute ist es durch den Gemeinschaftsgarten «Abre à palabres» und den Passarellen-Park mit der Natur verbunden. Mit Unterstützung von Ariane Tonon, ehemalige Lehrerin am Dufourschulhaus, konnte sich das Quartier erfolgreich gegen eine künftige Überbauung wehren. Besondere Freude und Genugtuung bereiteten Alfred Zulliger die wissenschaftlichen und schriftstellerischen Erfolge seines ältesten Sohnes Hans Zulliger.[11] 

 

Hans Zulliger wurde am 21. Februar 1893 in Mett geboren. Das Bauerndorf wurde wie Madretsch 1920 nach Biel eingemeindet und gehörte vorher zum Amt Nidau. Die stetige Quartierentwicklung von Mett liess nur wenige Bauernhäuser stehen. Der Dorfkern zeigt noch heute ein schönes Ensemble mit Kirche, Pfarrhaus, Bauernhaus und dem ehemaligen Primarschulhaus von Hans Zulliger. Hier war sein Vater Alfred ab Januar 1900 Mitglied der Schulkommission. Der Gottfried-Ischer-Weg erinnert an Gottfried Ischer (1832-1896), der als Pfarrer von Mett möglicherweise Hans Zulliger getauft hatte.


Das ehemalige Bauerndorf Mett (links), altes Bauernhaus von 1827 (mitte) und Hans Zulligers ehemaliges Primarschulhaus von 1838 (rechts).

 

Das Dufourschulhaus Biel in der Postkartensammlung der Stadtbibliothek Biel-Bienne. Sig. B 3 145
Das Dufourschulhaus Biel in der Postkartensammlung der Stadtbibliothek Biel-Bienne. Sig. B 3 145

Strenger Unterricht im Progymnasium Biel
Von 1903 bis 1908 besuchte Hans Zulliger das Progymnasium Biel, dass bis 1910 im Dufourschulhaus untergebracht war. Hier lernte er beim Volksdichter Arnold Heimann (1856-1916) im Deutschunterricht die Behandlung ausgewählter prosaischer und poetischer Werke, das Auswendiglernen von Gedichten und die Elemente der Poetik. Er schloss Freundschaft mit Werner Kasser, der von 1903 bis 1906 die Parallelklasse besuchte und ihn 1963 in der Biographie «Hans Zulliger» verewigte. Kasser erwähnt darin: «Im Progymnasium herrschte ein strenges Regiment, das sich, wenn es sein musste, mit dem Meerrohr, dem Arrest und mit dem Karzer durchsetzte. Dem Schulmeister oblag es, die Delinquenten einzusperren und nach Ablauf der Strafe wieder freizulassen. Die Stimme des Schulleiters erreichte im Trubel des Pausenbeginns und -endes auch den hintersten Schüler, obwohl er dessen Namen nicht kannte und ihn nur mit ‹Du Mensch› anredete. In verschiedenen Fächern wurden wir regelrecht gedrillt. Seine zeichnerischen Fähigkeiten verdankte er dem Zeichenlehrer und Kinderbuchautor Alexis William Schneebeli (1874-1947). Zulliger beherrschte das Kornett. Er wurde ins Kadettenkorps eingezogen und der Musik zugeteilt».[23] Als Hans Zulliger später Lehrer war, äusserte er sich darüber: «Ich wünsche mir keine Klasse ohne Lausbuben, denn etwas Lebendiges und Antreibendes würde fehlen.» Vielleicht lag es daran, dass Hans im Dufourschulhaus selbst ein kleiner Lausbub war: «Es gab einen Lehrer, der uns für jede Kleinigkeit nachsitzen liess. ‹Eine Stunde Arrest!› war sein geflügeltes Wort und wir grinsten darüber. Da wir sowieso nachsitzen mussten, erfanden wir Streiche. Es war uns egal, dass wir in seinen Augen als Saubande galten, was er uns immer wieder zu verstehen gab. Beim Nachsitzen flog eine Knallerbse an die Tafel. Als sich der Lehrer, rot vor Wut, sich darüber erkundigte, wusste niemand etwas davon. Er hatte auch keine Ahnung, wer ihm Leim auf den Sessel gestrichen und Löwezahnsamen  in sein Gartenbeet gesät hatte. Keine Schlingelei war uns zu klein, wenn wir ihn nur ärgern konnten. Der Frechste wurde einmal vor den Rektor zitiert und bekam zwei Stunden Karzer. Aber er galt unter uns als ein Held. Der bedauernswerte Lehrer ändert daraufhin seine Strafen. Er liess uns 100 bis 500 Mal den gleichen Satz schreiben, und einer von uns musste das Strafregister führen. Wir entschädigten den Kameraden dafür, dass er das Register zu unseren Gunsten falsch führte und die Strafaufgaben machten wir gemeinsam. Wir akzeptierten die Strafen weil sie uns Gerecht erschienen.»[52]
Hans verbrachte viel Zeit in Orpund bei der Familie Ernst Kuhn, die mit seinen Eltern befreundet war. Die Kuhns lebten ebenfalls von der Landwirtschaft und hatten auch eine Uhrmacherwerkstatt. Mit Grossvater Kuhn ging Hans regelmässig fischen. [7] Zulliger: «Auf meinem Strohhut trug ich als leidenschaftlicher Fischer immer ein Stück Schnur, Köder und eine oder zwei Angeln. Mein Taschengeld von 50 Rappen war in einem Taschentuch eingewickelt. Um es aufzubessern, fischte ich ein paar Barsche aus der Aare und verkaufte sie einem Stadtherrn für 80 Rappen. Dieses Geld gab ich dann für Karusselfahren aus. Als mein Vater fragte, wo ich war, sagte ich ‹Beim Rösslispiel!›. Wie hätte er wohl reagiert, wenn er gehört hätte, dass ich 80 Rappen verjubelte. Als er mich fragte, wieviel Taschengeld ich noch übrig hatte, zog ich das Taschentuch hervor und zeigte das Geld mit den Worten: ‹Noch die ganzen 50 Rappen!›.»[47] Mit der Zeit verdiente sich Hans durch das Fischen ein ansehnliches Taschengeld. Als er sich beim Fischen mit dem Lehrer Lienhardt von Meienried anfreundete, besuchte er ihn in der Volksschule. Da entstand in ihm der Wunsch, auch Lehrer zu werden.[7]  

  

Ehemaliges Schulhaus Ittigen. Foto: Hans-Peter Bärtschi, Bildarchiv der ETH-Bibliothek Zürich, CC BY-SA 4.0.
Ehemaliges Schulhaus Ittigen. Foto: Hans-Peter Bärtschi, Bildarchiv der ETH-Bibliothek Zürich, CC BY-SA 4.0.

47 Jahre Lehrer in Ittigen
Hans Zulliger bildete sich von 1909 bis 1912 am Staatsseminar Hofwil zum Volksschullehrer aus. Kasser: «Dort tauschte er sein Horn gegen eine Violine, verzichtete aber auf den Wunsch Musiker oder Kunstmaler zu werden, weil er möglichst schnell von der Hilfe seiner Eltern unabhängig werden wollte.»
[23] Nachdem er sein Patent erhielt, kam er 1912 mit knapp 19 Jahren, an die Primarschule des Bauerndorfes Ittingen, Kirchgemeinde Bolligen. Das 1886 eingeweihte Schulhaus steht am Rain. Mit einem Monatslohn von 135 Franken war Zulliger nicht auf Rosen gebettet. Wäre er Lehrer am Progymnasium in Biel geworden, hätte er als Deutschlehrer mit einem Jahreseinkommen von mindestens 3600 Franken deutlich mehr verdient. Doch er zog das Landleben vor und blieb, obwohl er weder Auto noch Pferd besass, bis zu seiner Pensionierung 1959 in Ittigen. Zulliger: «Wenn ich in der Schule mein Seeländer Berndeutsch sprach, erregte es bei den Kindern Heiterkeit, weil es anders klang als das Mittelländische. Ich nahm mir zuerst vor, es zu lernen, um vor meinen Schülern nicht komisch zu wirken. Dazu liess ich die Leute vom Bantiger Geschichten erzählen und prägte mir ihre Ausdrucksweise ein».[7] Einen Unterbruch als Lehrer erlebte er im Ersten Weltkrieg, wo er als Soldat die Juragrenze bewachte und als Unteroffiziersschüler im Lehrbataillon der 3. Division nach Delsberg kam. 1953 wurde er als Offizier aus der Wehrpflicht entlassen.[7]  


Hans Zulliger gibt Unterricht in Ittigen. Foto: Burgerbibliothek Bern, Sig. N Eugen Thierstein 343 14 / 16, CC BY 4.0

 

Für seine Schüler war er nicht nur Lehrer, sondern auch Vertrauter und Berater. Auch seinen jüngeren Kollegen stand er mit Rat und Tat zur Seite. Ein «Nein» oder «Keine Zeit» war von ihm nie zu hören. Wer sich verirrte oder in eine Sackgasse geriet, den führte Zulliger wieder auf den rechten Weg zurück.[17] Die folgende Anekdote zeigt den Zusammenhalt zwischen Lehrer und SchülerInnen. Hans Zulliger: «In den Herbstferien teilte mir ein Mädchen aus meiner Klasse mit, dass eine meiner Schülerinnen im Spital gestorben sei. Sie bat mich, mit den Mitschülern ein Lied einzustudieren, das wir der Verstorbenen am Grab singen würden. Ich war einverstanden, wenn sie die Mitschüler zusammenbrächte und am Abend genügend Stimmen vorhanden wären. Ich bezweifelte, dass das in den Ferien möglich sein würde. Am Abend fand ich die Klasse fast vollzählig vor. Wir studierten ein Lied ein und gingen zwei Tage später zur Beerdigung, die in Bern stattfand. Die Klasse hatte einen Kranz mit weissem Band gekauft. Darauf stand in goldenen Lettern: Die Liebe hört nie auf.»[58]
Im Bund (20. 2. 1993) berichtete seine ehemalige Schülerin Ruth Wolf: «Beeindruckend war Zulligers Gabe, jedem Schüler den für ihn richtigen Weg zu zeigen. Einfühlsam half er dem einzelnen, sich zurechtzufinden und aufzubrechen - dann aber liess Zulliger gewissermassen los, gab dem Schüler Raum für Eigenverantwortung». Als am 28. Juni 1953 in Ittigen das neue Schulhaus eingeweiht wurde, sang die ganze Schule ein Lied, dessen Text Zulliger geschrieben hatte. In Ittigen amtete der Sozialdemokrat auch als Gemeinderat und Mitglied der Geschäftsprüfungskommission.

  

Hans Zulliger mit Frau, Grosskind und Mutter. F: Die Berner Woche, 20. 2. 1943, S. 209
Hans Zulliger mit Frau, Grosskind und Mutter. F: Die Berner Woche, 20. 2. 1943, S. 209

Familie
Hans Zulliger heiratete am 5. Dezember 1915 Ida Martha Urfer (1893-1973), damals Lehrerin in Riederbütschel, der er zum 70. Geburtstag das Gedicht «Es Büscheli Matte-Meie» schenkte. Hans Zulliger: «Ohne meine Frau hätte ich meine vielfältige Arbeit nicht bewältigen können».[23] Als kritische Begleiterin redigierte Martha seine Manuskripte. Sie war auch in der Kindererziehung sehr aktiv und arbeitete als Psychoanalytikerin. Im Frauenkalender 1922 äusserte sie sich zur Stellung des Kindes in der Familie. Im Bund veröffentlichte sie «Es Wiehnachtsliedli» (25. 12. 1925) und die Erzählungen «Die Treppe» (22. 5. 1921), «Ein Wiedersehen» (7. 2. 1926), «Ds Cheischtli» (1. 10. 1933) und «Der Tanndligoumer» (23. 12. 1935). Ihr Mundartstück «Ufs Härz muess me lose» wurde mehrmals aufgeführt. Aus der Ehe gingen der Münsinger Primarlehrer Peter (geb. 1916), Lehrerin Elisabeth (geb. 1918) und Anne-Maria (1921-1998) hervor.

  

Schriftstellerische Tätigkeiten


Hans Zulliger führte stets ein Notizbuch bei sich, in dem er seine Erlebnisse in Versen festhielt. Seine erste Veröffentlichung erschien 1912 in den Berner Seminarblättern. Es war ein Bericht seiner Seminarreise 1911 nach München. Sein Seminarkamerad Fred Stauffer versah die Zeichnungen dazu.[7]

 

Bärndütsch

«Dass me nid en allnen Orten exakt glych redt, däisch aber

grad ds schönschte. Üsi Spraach isch rych, rych!»

Hans Zulliger, Der Bund, 29. 12. 1920

Bärner Wiehnecht, Verlag Francke, Bern 1918. Sammlung Nationalbibliothek Bern.
Bärner Wiehnecht, Verlag Francke, Bern 1918. Sammlung Nationalbibliothek Bern.

Mit Weihnachtsversen zu Erfolg
Im Winter 1915 wurde Hans Zulliger von einer Lehrerin, seiner zukünftige Frau Martha, gebeten, Weihnachtsverse zu schicken. Ein Verzeichnis ihrer bereits verzeichneten Bändchen und Hefte legte sie bei. Er suchte in den Buchhandlungen nach etwas Brauchbarem, fand aber nur die Gedichten der Mundartschriftstellerin Sophie Hämmerli-Marti (1868-1942). Zulliger: «Aber eines Morgens fiel mir ein Rhythmus zu Weihnachtsversen im Dialekt ein. Bis dahin hatte ich noch nie etwas in Mundart geschrieben. Nachdem eine Handvoll mundartlicher Weihnachtsverse entstanden waren, las ich sie meinen eigenen Schülern vor, ohne ihnen zu sagen, wer sie geschrieben hatte: kleine Legenden aus der Kindheit von Jesus und einige lyrische Stücke. Sie wurden begeistert aufgenommen. In den folgenden Vorweihnachtszeiten schrieb ich neue Verse, bis ein ganzes Bündel entstanden war. Bei einem Schulbesuch fand sie mein damaliger Schulinspektor, als er mir das Pult durchwühlte. Er hielt mir eine kleine Strafpredigt, weil ich die Verse nicht veröffentlichen wollte. Ich bat Simon Gfeller, er möchte sich die Sache ansehen und mir seine Meinung mitteilen. Gfellers Antwort klang so begeistert, dass ich zum Verleger Alexander Francke (1853-1925) ging und 1918 kam die ‹Bärner Wiehnacht›  heraus, die in der Folge viele Auflagen erlebte.»[39] So begann Zulligers schriftstellerische Laufbahn mit den Mundartversen «Bärner Wiehnecht».[1] Das Burgdorfer Tagblatt (21. 12. 1918) schrieb: «Zulliger ist ein echter Poet, auch wenn er nur Verslein für die Kleinen und Kleinsten schreibt, die sie mit Freuden auswendig aufsagen, wenn die Mutter oder die Lehrerin sie ein paarmal vorgelesen hat.» Zwei Kostproben zeigen, wie gut Hans Zulliger den kindlichen Ton trifft:

 

Es Briefli
Ha geschter z'Nacht es Briefli
Uf d'Fäischtersimse gleit,
Wo druff em Wiehnechtchingli
Sy Name gschribe steit.

U wo-n-i hütt erwache,
Jsch d'Fäischtersimse läär . . .
Jetz wett i, ds Wiehnechtchingli
Chäm hinecht scho derhär

 

D’Mueter
D'Maria, uf de Zeie,
So lys, as wie sie cha,
Geit süferli zum Chrüpfli,
Luegt ihres Chingeli a.


Es lyt uf Streui bettet,
Das isch für ihns scho gnue.
Mit Josephs altem Mantel
Deckt's d'Mueter hübscheli zue.


Lyts scho nid i re Wiegle,
Es schläfelet ganz glychi guet!
d'Maria bückt sich zue-n-ihm
U lost, wies schnüfele tuet…[2]

  


Hans Zulliger über das Dichten: « Die schriftstellerische Arbeit wird im Allgemeinen schlecht bezahlt. Deshalb wird sie in der Regel als Nebenberuf ausgeübt. Diese Doppelbeschäftigung führt aber oft zu Konflikten. Man kann nicht auf Befehl dichten. Der Dichter ist gezwungen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Die Nächte, die Sonntage müssen dem Nebenberuf gewidmet werden, er lebt nicht mehr bei seiner Familie, er verzichtet auf Urlaubstage. Aber oft reicht die Zeit nicht aus: ein Werk bleibt Fragment oder wird gar nicht geschrieben. Der Dichter fühlt sich dann wie ein Weinstock, an dem die Trauben vertrocknen müssen, weil sie während der Reife nicht gelesen werden konnten.»[35]

Hans Zulliger liebte den Reichtum der Berner Mundart. Er wünschte sich, dass man zur Mundart Sorge trage, da viele Ausdrücke langsam verschwänden. Mit den Mundartdichtern Simon Gfeller und Otto von Greyerz hatte er zeitweise zwei Förderer und Begutachter seiner Werke. Bald umfasste seine schriftstellerische Tätigkeit in Mundart auch Kurzgeschichten, Theaterstücke, Balladen und Festspiele, Artikel für Zeitungen und den Schweizerischen Schriftstellerverein. Viele seiner Werke eigneten sich besonders zum Vorlesen im Familienkreis.[1] 
 

«Zulligers würzige und bildhafte Sprache brachte Werke hervor, die an Gotthelf und an Tavel erinnern.

Es sind Bekenntnisse, getragen von einem tiefen Verständnis für die kindliche Seele.»

Kinderanalytiker Jacques Berna (1911-2000), NZZ, 20. 10. 1965

 

1920 hielt Zulliger in Bern für die Bärndütsch-Gesellschaft im Grossratssaal einen Vortrag, der im Bund (29.12.1920) abgedruckt wurde. 1921 folgten Beiträge in der Zeitschrift «Heimatschutz», im «Schweizer Heimatkalender», im Novemberheft der «Schweiz» und ein heiterer Leseabend im Schulhaus Ittigen. Als Gustav Fontanellaz 1922 eine Reihe von Dialektlieder herausbrachte, waren auch Texte von Zulliger darunter. 1923 brachte Zulliger als Sammler von Gespentergeschichten sein Werk «Unghüürig, Allti Gschichte us em Bantigergebiet» heraus. Die Berner Tagwacht (8. 11. 1923): «Jeder, der die Gegend zwischen Bantiger und Grauholz kennt, weiss, welche alten Geschichten hier umgehen und wird das Büchlein mit Eifer lesen.» 1924 entstand unter der Mitwirkung von Simon Gfeller und Otto von Greyerz das Bändchen «Albes, wo mer jung sy gsy», mit Kindheitserinnerungen der Autoren. Mit seinem 1925 erschienenen Buch «Bi üs daheime» reihte sich Zolliger in die erste Reihe der Dialektschriftsteller ein. Die Neue Berner Zeitung (12. 12. 1925): «Zulliger ist ein Meister der berndeutschen Plauderei und Skizze. ‹Blüemli› ist eine der schönsten berndeutschen Erzählungen.»
Eine weitere Bereicherung der Berner Mundartdichtungen gelangte Zulliger 1932 mit dem Bändchen «Bärner Marsch». Den Hauptteil (Us alte Tage) füllten historische Szenen und balladenartige Verserzählungen aus der bernischen Geschichte von der Laupenschlacht bis zu den Erlebnissen der Grenzbesetzung.  Eine Anekdote erzählt vom armen Ritter von Egerdon, als 1349 die Pest in Bern wütete. Eine andere die seltsame Begebenheit der Käfer vor Gericht. 1934 unterhielt er den Ortsverein Aarberg im Rathaussaal zwei Stunden lang mit «Gedrucktes und Ungedrucktes». 

  
Hans Zulliger im Radio
1926 führte das Heimatschutztheater Zulligers Gespenstergeschichte «Unghüürig» im Radio auf, die mehrmals wiederholt wurde. Zulligers Anliegen, das Bärndütsch einem möglichst breiten volkssprachigen Publikum vorzustellen, wurde mit dem Medium Radio verwirklicht. Es folgten Lesungen aus «Chüehni Hännelis Bihs», «Gespenstergeschichten aus der Umgebung Bern», «Der Rothebüeler Niggel, Lesungen aus der Schriftstellermappe (1928), Ds Zälgacherli», Ds Blüemli» (1931), «Buebebärg» (1942). 1950 sendete Radio Beromünster das Hörspiel «Löhre-Haness». Die Neuen Zürcher Nachrichten (18. 9. 1950): «Die Geschichte schildert einen Bauern, der sein drittes Kind verstösst, nach vielen Schicksalsschlägen seinen Stolz und Eigenwillen verliert und im Studium der Bibel die Deutung des Lebens findet, die mit der Rückkehr des Verstossenen endet. Eine geschickte Mischung aus König Lear, Heimatschutztheater und geistlichem Spiel.» 1950 feierte das Radiostudio Bern sein 25-jähriges Bestehen. Anstatt eine Festschrift herauszugeben, beschloss man, Hörspielaufträge an Autoren zu vergeben. Das Ergebnis war die Geschichte «Der Waisenvogt». Seine stimmungsvollen Gedichte wurden alljährlich zu Weihnachten übertragen.

  
Beitrag der heimatlichen Dichter zur geistigen Landesverteidigung
Als die Nationalsozialisten in Deutschland nach den Bücherverbrennungen von 1933 die Reichsschrifttumskammer (RSK) gründeten, schlossen sich ihr auch einige Schweizer Schriftsteller an und unterwarfen sich der deutschen Zensur. Dies ermöglichte bessere Verkaufszahlen. Hans Zulliger lancierte im Rahmen der «Geistigen Landesverteidigung» eine Initiative, um gemeinsam mit Berner Autoren das Bärndütsch als Kulturgut zu fördern. Daraus entstand der Berner Schriftsteller-Verein, dem Zulliger als aktives Mitglied angehörte. Er organisierte 1938 im Kursaal Schänzli Bern einen Dichterabend, an dem er und acht weitere Berner Schriftsteller und Dichter teilnahmen. An diesem Anlass begrüsste Zulliger als eigentlicher «Spiritus rector» die Gemeind. Drei Lieder des Berner Männerchors gaben dem Abend einen festlichen Auftakt. Zulliger gab dann drei Balladen zum Besten. Neben Zulliger lasen vor: der Lyriker Walker Dietiker, der Balladendichter Hans Rhyn, die Schriftsteller Erwin Heimann, Emil Schibli, Ernst Balzli, Emil Balmer, Karl Grunder, und der Jurassier Joseph Beuret in französischer Sprache. Die Idee fand offenbar Anklang, denn der Anlass war gut besucht. 1939 sprach Hans Zulliger an der Volksschule Zürich in der Vortragsreihe «Schwizer Dichtig» über das Problem der dichterischen Gestaltung in der Mundart. Im gleichen Jahr erschien im Francke Verlag Bern das Buch «Flüehlikofer Härd». Darin schildert Zulliger die Dorfbewohner im Berner Mittelland. 1941 erschienen nach seinen Texten «Berner Mundartliedli» für eine Singstimme und Klavier. 1941 stellte er im Interesse der geistigen Landesverteidigung den Berner Schultheiss und Feldherrn Adrian von Bubenberg (1424-1479) in den Mittelpunkt eines Mundartballadenzyklus. 1942 fand unter dem Patronat von Stadtpräsident Guido Müller der «Bieler Dichterabend» statt. Zulliger gab dem Publikum Kostproben aus «Buebebärg» und einer Mundarterzählung. Am Jahrestreffen der Berner Schriftsteller in Aarberg am 12. November 1950 trug Zulliger die humorvolle Geschichte einer Flühlikoserin vor, die den Teufel überlistete. Als im Dezember 1950 im Encyclios-Verlag Zürich das 1920 Seiten umfassende «Schweizer Lexikon in 2 Bänden» erschien, bedauerte der Bund (21.12.1950), dass man darin «namhafte Berner Heimatdichter wie Hans Zulliger vergeblich sucht.» Im Winter 1950/1951 las Zulliger für den «Verein für deutsche Sprache, Bern» drei berndeutsche Geschichten vor, 1964 in der Stadtbibliothek Burgdorf berndeutsche Balladen.

 

Unghüürig. Inserat im L'impartial, 19. 2. 1965
Unghüürig. Inserat im L'impartial, 19. 2. 1965

Theater- und Festspiele
Unghüürig - Ein Mundartlustspiel in zwei Akten: Die Gespenster- und Liebesgeschichte wurde am 25. 10. 1921 im Stadttheater Bern unter grossem Beifall uraufgeführt. Ausschlaggebend dafür war der am 17. November 1915 von Otto von Greyerz gegründete Berner Heimatschutztheater-Spielverein Bern, der sich die Förderung des Mundartschauspiels zum Ziel gesetzt hatte. Die Spieler wurden in den Programmen nicht namentlich aufgeführt. Die Einnahmen flossen ausschliesslich in die Vereinskasse. Die Geschichte dreht sich um einen Schelm, der sich sein Geschäft erleichtern will und lieber keinen Pächter auf dem «Rosindli» sehen möchte. Er verbreitet das Gerücht, dass dort oben ein Gespenst sein Unwesen treibe. Zwei Buben und zwei Mädchen versuchen, es zu fangen. Als sie die Angst packte, kamen sie sich näher und im Nu waren sie zwei Paare. Auch das Gespenst konnte gefangen werden.[4] «Unghüürig» war Zulligers erfolgreichstes Stück.
Aufführungen (Auswahl): 1921: Bern, Lützelflüh (Heimatschutztheater Bern). 1922: Biel (Heimatschutztheater Bern). 1923: Neuchâtel (Heimatschutztheater Bern). 1926: Bern (Zytglogge-Gesellschaft). 1933: Thierachern (Gemischter Chor). 1939: Thun (Pontonierfahrverein). 1941: Mett (Frauen- und Töchterchor). 1942: Bern (Gemischter Chor Holligen-Fischermätteli). 1945: Biel (Gesellschaft der Militär-Motorradfahrer vom Landesteil Seeland-Jura), Cordast (Kichenchor). 1950: Burgdorf (Arbeiterfrauen- und Töchterchor), Uebeschi (Frauen- und Töchterchor). 1951: Steffisburg (Männergesangsverein). 1952: Zäziwil (Musikgesellschaft Eintracht). 1954: Burgistein (Gemischter Chor Burgiwil). Burgdorf (Trachtengruppe Burgdorf und Umgebung), Wynigen (Jodlerklub und Trachtengruppe). 1957: Hindelbank (Turnverein der Damen- und Jugendriege). 1960: Gurzelen (Frauenchor), Bargen (Frauen- und Töchterchor). 1961: Kandersteg (Trachtengruppe), Steffisburg (Gemischter Chor). Münchenbuchsee (Trachtengruppe Grauholz). 1962: Villeret (Männerchor Frohsinn), Trub (Frauen- und Töchterchor). 1963: Blumenstein (Damenriege und Turnverein). 1964: Heimberg (Arbeiter-Männerchor), Rüti bei Büren (Gemischtenchor). 1965: Hilterfingen (Heimatschutztheater Bern), Renan (Landfrauenverein St. Immertal). 1966: Albligen (Gemischter Chor). 1969: Biel (Blaukreuz-Musik). 1971: Wahlendorf (Trachtengruppe Meikirch). 1972: Krauchthal (Damenturnverein und Mädchenriege). 1974: Wangen (Trachtengruppe Wangen und Umgebung). 1982: Wattenwil (Trachtengruppe), Uettligen (Trachtengruppe Wohlen). 1983: Düdingen (Männerchor), Tramelan (Chœur mixte Anémone), 1984: Blumenstein (Trachtengruppe). 1988 Thun (Jodlerklub Blüemlisalp). 1989: Thun (Oberländer Liebhaberbühne). 1990: Bösingen (Gemischer Chor Fendringen): 1992: Sigriswil (Männerchor). 2001: Überstorf (Gemischter Chor Kessibrunnholz).

 

 Quellen/Sources: 1)