Juravorstadt 9, das Volkshaus von 1916-1932 /

Faubourg du Jura 9, la Maison du peuple de 1916-1932

1854 wurde die Liegenschaft Juravorstadt 9 als Nebengebäude des «Gasthofs zum Jura» (Untergasse 47) als erstes Haus einer Wohnhauszeile mit Geschäftslokalen in der Juravorstadt erbaut. Es war der Beginn der Stadterweiterung ausserhalb der mittelalterlichen Mauern.[2] Der Juraplatz war damals der wichtigste Verkehrsknotenpunkt in der Stadt. Der gesamte Post- und Fuhrwerksverkehr, sowohl in den Jura als auch aus der Westschweiz nach Solothurn und Aarau, wurde hier abgewickelt.

  

Baubeschrieb der Kantonale Denkmalpflege Bern: «Gebäude in spätklassizistischer Formensprache. Der reich befensterte Baukörper hat ein traufständiges Satteldach. Achsensymmetrisch konzipierte, 9-achsige Strassenfassade, die mit einem breiten, leicht risalitierten Mittelteil, Pilastern und einem Gesimse über dem Erdgeschoss gegliedert ist. Betonung der Mittelachse durch Eingang und Balkon (gutes Geländer). Im Erdgeschoss auffällige Jugendstilfenster von Jules Aebi, die auf den Umbau des Restaurants von 1906 zurückgehen. Erdgeschossfenster auf der Westseite ebenfalls jüngeren Datums. In den Giebelfeldern Serliana. Eines der 3 grossen Gasthäuser, die den Juraplatz umgaben. Vor allem als ehemaliges Volkshaus von Bedeutung. Markanter Kopfbau der Juravorstadt-Häuserzeile (Nrn. 9-31) und prägendes Gebäude am Juraplatz.» [3] Die Inschrift «Volkshaus - Maison du Peuple» über den Fenstern des 1. Obergeschosses ist inzwischen verblasst.

  


Wohn- und Geschäftssitz der Familie Walter
Franz Walter (1838-1885), Bierbrauer aus Württemberg und Maria Regina Dorothea Helbling (1832-1930) heirateten 1858 in Oehringen. Ihr Sohn Georg Franz (1863-1910) wurde Bierbrauer,  ihre Tochter Louise Regina (1865-1892) heiratete 1892 den Anwalt und späteren Bieler Stadtpräsidenten Eduard Stauffer (1860-1907).[4]

Das Ehepaar betrieb in Bözingen eine gut gehende Brauerei. Das selbstgebraute «Walter-Bier» wurde in der 1862 eröffneten Wirtschaft am Juraplatz 9 rege konsumiert. Im Lokal Walter entstand am 20. Februar 1865 unter dem Namen Narhalla die zukünftige Bieler Faschingszunft. 1866 wurde die Bierbrauerei von Bözingen nach Biel verlegt und die «Bierbrauerei Walter» gegründet, welche sukzessive ausgebaut wurde. [2] Das Haus bestand aus einem Blainpied mit zwei grossen Wirtschaftssälen und einem geräumigen Schalenmacher-Atelier. Im Hintergebäude befand sich die Brauerei mit grossen gewölbten Kellern. Das Haus Nr. 9 wurde häufig für politische Versammlungen genutzt, während im Restaurantbetrieb die Gäste musikalisch unterhalten wurden. Es spielten u.a. die Tiroler Alpensänger (25. 9. 1866) und die Geschwister Deiniger (8. 10.1866). 

Am 13. Juli 1872 wurde hier auf Initiative von Franz Wilhelm Gassmann (1845-1892) die Sektion Biel des Bernischen Volksvereins gegründet.[5]
1873 beschlossen die Eigentümer, der Kaufmann Louis Tschantré-Boll und der Uhrenfabrikant David Müller, ihre Gütergemeinschaft aufzulösen und das Gebäude zu veräussern. Das Verkaufsargument lautete: «Die Liegenschaft eignet sich hervorragend zum Betrieb einer Bierbrauerei, einer Wirtschaft, für die Uhrenfabrikation und für angenehme Wohnungen.»[1]  Die Brauerei durfte Franz Walter weiterführen. Im  Haus wuchsen nicht nur die Kinder der Familie Walter auf, es wohnten darin auch mehrere Bierbrauer.

1873 errichtete Franz Walter zwischen dem Fürstenspeicher und seiner Wirtschaft in der Juravorstadt 7 eine Trinkhalle, einen Malz- und Gärkeller und eine «Deutsche Kegelbahn». Als Nachteil erwies sich, dass einige der Angestellten lieber kegelten, als die Gäste zu bedienen. 1879 brach in der Brauerei ein Feuer aus, das von der städtischen Feuerwehr schnell unter Kontrolle gebracht werden konnte. Im gleichen Jahr beantragte er bei der Gemeinde die Errichtung einer Malzdarre aus Stein und Eisen auf dem Dach des Brauereigebäudes. Am 2. August 1880 wurden er und seine Familie gegen eine Gebühr von Fr. 2000.- in den Burgerverband aufgenommen. 1882 errichteten die Bieler Architekten Haag & Frey  im Hof ein neues Brauereigebäude mit Lager.[2] Nach dem Tod von Franz Walter 1885 führte seine Witwe Regina Walter-Helbling die «Brasserie Walter» weiter. Sie verpachtete 1891 die Wirtschaft an Hans Bucher und baute neben der Brauerei einen 25 Meter hohen Kamin.[4]
Am 21. Juni 1892 übertrug Regina Walter ihrem Sohn Georg Franz Walter, Vorstandsmitglied des Schweizerischen Bierbrauervereins, ihren Brauereibesitz in der Juravorstadt und Schützengasse.[7] Franz Walter Jr. war verheiratet mit Marie Elise Küng (1868-1949) aus Lyss. Die beiden ersten Kinder wuchsen an der Juravorstadt 9 auf: Karl Franz (1891-1962) machte als Arzt in Zürich Karriere, Dr. Eduard Walter (1897-1966) wurde ein bekannter Augenarzt. 1899 erwarb Georg Franz Walter von der Erbschaft des Pfarrers Thellung die nahe gelegene Villa Favorita. Dort wuchs der jüngste Sohn Bruno Walter (1908-1954) auf. Er war Jurist, Sekretär der kantonalen Baudirektion und Schweizer Meister im Schwimmen. Er starb mit 46 Jahren.

 

Das beste Bier der Schweiz kam aus Biel
1896 gewann Georg Franz Walter an der Landesausstellung in Genf die Goldmedaille für sein Bier.

     
Ständiger Wechsel vom Wirtspersonal und Gründung der Brasserie Seeland
Ab dem 21. Januar 1897 wirtete der Küchenchef Robert Ferdinand Weck, 1900 der Luzerner Vital Birrer und von 1904 bis 1909 Robert Becks Schwiegersohn Samuel Wildi-Weck (1866-1954). Mittlerweilen wurde am Juraplatz der Trambetrieb aufgenommen. 1905 fusionierte die Brauerei Walter mit der Brauerei Kaiser & Probst zur Seelandbrauerei. Präsident wurde Georg Franz Walter. Im selben Jahr wurde der Braubetrieb an der Juravorstadt eingestellt. 1906 erfolgte der Umbau des Restaurants. Georg Franz Walter hatte als ständiger Begleiter auf vier Pfoten den reinrassigen schwarzen Neufundländer-Rüden Pascha. Dieser gewann 1908 auf der Schweizerischen Hundeschau in Interlaken den 1. Preis. 1909 wurde A. Böhler-Lachat neuer Wirt, dann wieder Georg Franz Walter. Er starb am 10. April 1910  im Alter von 47 Jahren während einer Riviera-Reise der Bieler Liedertafel an Herzversagen. Er hinterliess eine Frau und vier Kinder.[8]
Der Bözinger Wirt Joseph Amrein, Mitglied der Bieler Arbeiterunion, übernahm mietweise die Brauerei.  Die Angestellten wohnten und schliefen in der Brauerei und gehörten den Arbeitergenossenschaften an.

Volkshaus von 1. 5. 1916 bis 31. 10. 1932
Am 1. Januar 1892 richtete der Grütliverein an der Untergasse im ehemaligen Abtenhaus (heute Restaurant St. Gervais) das «Vereinshaus Helvetia» ein. 1893 bekannten sich die Grütlianer zur Sozialdemokratie und schlossen sich der Arbeiterunion an. Damit legten sie in der «Helvetia» die Grundlage für die weitere Entwicklung der Arbeiterbewegung in Biel. 1916 wurde das Lokal aufgegeben und die Bieler Volkshausgenossenschaft gegründet, die im gleichen Jahr die Räumlichkeiten an der Juravorstadt 9 mietete und dort das Volkshaus eröffnete. Es wurde der Hauptsitz der Sozialdemokratischen Partei Biel. Die Liegenschaft hatten die Bieler Architekten Saager & Frey zu diesem Zweck umgebaut. Hinter dem Hauptgebäude entstand an der Juravorstadt 11 ein grosser Volkshaussaal mit einer Bühne für 500 Personen. Die Säle und Vereinsräume wurden mit modernsten Ventilationsanlagen ausgestattet. Das Hinterhaus bildete den sozialen Kern des Volkshauses. Ab dem 1. Juli 1916 befand sich das Vereinslokal des Bieler Uhrenarbeiter-Verbandes im Kegelbahngebäude (Juravorstadt 7).[10]
Am 3. September 1916, dem sogenannten «Roten Sonntag», erfolgte die Einweihung. Zur Sicherheit wurde ein Schützenbataillon aufgestellt. Der Festzug wurde von den Klängen der Union Instrumental begleitet. Am Schluss des Zuges marschierte die sozialdemokratische Jugendorganisation. Mit dabei war auch eine Radfahrergruppe, deren Räder mit den Berner Farben geschmückt waren. Besondere Beachtung fanden die von Saager & Frey neugewonnenen Räume im Hinterhaus. Zum Festsaal mit Bühne zählten auch die gut ausgeführten Bühnenhintergründe von Künstler Bätschi. Der wichtigste Teil vom Volkshaus bildeten die verschiedenen kleinen, hellen Säle und Sitzungszimmer. Ein geräumiges Lesezimmer mit Bibliothek war durch einen Rollladen vom hinteren Teil des Restaurants abgetrennt.[11] Jeden Mittwoch spielte der Arbeiter-Schachklub Biel. Das Restaurant bot Platz für 300 Personen und war das grösste Wirtschaftslokal der Stadt. [9] Wichtige Themen die im Volkshaus diskutiert wurden, waren Massnahmen gegen die allgemeine Teuerung und gegen die Mietnot (zu hohe Mietzinse, wenig Wohnraum). Im Sommer 1918 fand die Gründungsversammlung der «Baugenossenschaft Volkshaus Biel» statt mit dem Ziel, ein eigenes Volkshaus mit Hotel zu bauen. 

 



Klicken Sie auf die Fotos, um sie zu vergrössern: Die Bauten Juravorstadt 9 (rechts) und 11 mit Verbindungstrakt, Im Hinterhaus des 2. Bieler Volkshauses entstand ein grosser Fest- und Versammlungssaal für die Arbeiterbewegung. Immer noch weitgehend im Originalzustand und mit den damaligen Leuchtern ausgestattet, dient er heute (2023) der Tanzschule Move.

  


Innendetails vom Gebäude Juravorstadt 11 mit Wand- und Bodenverzierung, Zustand 2023. Zur Brauerei Walter und zum Volkshaus gehörte auch das Haus Juravorstadt 7 mit ehemaliger Kegelbahn.

   

Volkshäuser in der Schweiz 1927 (Auswahl)
Basel: Volkshaus zur Burgvogtei, Rebgasse, kein Hotel
Bellinzona: Volkshaus gegenüber Bahnhof, mit Hotel
Biel: Volkshaus, Juravorstadt 9, Restaurant, kein Hotel
Brig: Volkshaus, mit Hotel
La Chaux-de-Fonds: Volkshaus, Rue de la Serre 68, kein Hotel

 

Fribourg : Volkshaus, Rue de Lausanne 79, mit Hotel
Luzern: Volkshaus, Pilatusplatz, mit Hotel
Olten: Volkshaus, Kronenplatz, mit Hotel
Solothurn: Volkshaus zum Falken, mit Hotel
St. Gallen: Gewerkschaftshaus, Lämmlisbrunnstr. 41, kein Hotel
Zürich: Eintracht Gewerkschaftshaus, Neumarkt 5, mit Hotel

   


Nach dem Umzug der Arbeiterschaft 1932 in das von Eduard Lanz erbaute Volkshaus hiess das Restaurant «Casino». Anlässlich der BIWO 1936 fand im Saal des Restaurants eine grosse Ausstellung mit Arbeiten von Bieler Arbeitslosen statt.

Ehemaliges Möbelgeschäft Mauss
Als Sohn eines Tapezierers in der Bieler Altstadt aufgewachsen und nach fünfzehnjähriger Tätigkeit als Kaufmann und Dekorateur in Basel, eröffnete Adrien Mauss 1946 am Juraplatz 9 ein Möbelgeschäft. Die Ausstellung der Firma befand sich im Tanzsaal des ehemaligen Volkshauses. Um den finanziellen Engpass in der Startphase möglichst schnell zu überwinden, verzichtete er zwei Jahre lang auf eine Wohnung und lebte mit seiner Frau hinter hohen Möbeln verbarrikadiert auf der Tanzbühne des ungeheizten Saals. Auch Jahre später, als das Unternehmen expandierte, diente der Saal als Ausstellungsraum.[6]

 

Ein vielfältig genutztes Gebäude

Das Gebäude diente als Zifferblattatelier, Immobilienbüro, Saal der Heilsarmee, Velohandel, Tanzschule, Künstler- und Fotografenatelier, Église evangelique de Réveil, usw.

 

Renovation von 2002

2002 erfolgte eine sanfte Renovation der Hauptfassade.[2]

    


L'immeuble au Faubourg du Jura 9

1854    Construit comme dépendance de l’Hôtel du Jura. Premier immeuble de l’ensemble Faubourg du Jura.
1862    Inauguration d’un restaurant par Franz Walter, brasseur de Wurtemberg (Allemagne).
1866    Transfert de la brasserie existante de Boujean à Bienne et fondation de la brasserie Walter, agrandie successivement par la suite.
1882    Construction dans la cour par les architectes Haag & Frey de Bienne d’une brasserie avec dépôt.    
1905    Suite à la fusion de la brasserie Walter avec la brasserie du Seeland, la production de bière est abandonnée.
1906    Rénovation du restaurant et aménagement des fenêtres en stile «liberty» par Jules Aebi.

«Maison du Peuple» du 1 mai 1916 jusqu’au 31.Octobre 1932.
1916    Pour le mouvement ouvrier biennois, les anciens locaux dans l’actuel restaurant St. Gervais à la rue Basse deviennent trop petit. La coopérative loue les locaux au Faubourg du Jura. L’ensemble de ces locaux est rénové et réorganisé selon les plans des architectes Saager& Frey, qui aménagent dans l’ancienne brasserie une salle avec scène. L’inauguration a lieu le 3 septembre 1916. Le bâtiment au Faubourg du Jura reste la maison du peuple jusqu’à l’achèvement de la nouvelle construction à la rue de la gare, actuellement occupé par la école de la musique.


1932    Après son exploitation comme maison du peuple, l’immeuble trouve différentes affectations et devient notamment atelier d’horlogerie, magasin de meubles et locatif.
2002    Rénovation douce, notamment de la façade. [2]
  



Quellen/Sources : 1) Amtsnotar Moll, «Liegenschaften» in Der Bund, Bern, 17. April 1873, S. 8; - 2) Informationsschild am Haus Juravorstadt 9/11; - 3) Kantonale Denkmalpflege Bern, «Biel/Bienne, Juravorstadt 9» in Bauinventar des Kantons Bern, Online, abgerufen 2023; - 4) Werner und Marcus Bourquin, Biel Stadtgeschichtliches Lexikon, Verlag Cortesi, Biel, 1999, S. 474; - 5) Werner Bourquin, «100 Jahre Buchdruckerei Gassmann Biel», in Bieler Tagblatt, Biel, 1. 2. 1949, S. 3; - 6) HS, «Ein Katzensprung zu Möbel-Mauss» in Bieler Tagblatt, Biel, 23. 11. 1970; - 7) «Kaufbeil vom 21. Juni 1892» in Tagblatt der Stadt Biel, Biel, 28. 12. 1892, S. 4;- 8) «Tod von Franz Walter» Bieler Tagblatt, Biel, 12. 4. 1910, S. 2; - 9) «Maifeier in der Brauerei Walter» in NZZ, Zürich, 2. 5. 1916, S. 2; - 10) «Uhrenarbeiter» in SMUV-Zeitung, Bern, 8. 6. 1916, S. 3;  11) m., «Einweihung des Volkshauses» in Bieler Tagblatt, Biel, 4. 9. 1916, S. 2