Das Dufour-Schulhaus / L' école Dufour 1903

Hans Zulliger Teil II - Pionier der Kinderpsychologie

Lesen Sie auch TEIL I und lernen Sie Zulligers literarisches Schaffen von Berner Mundart- und Kinderbüchern kennen.

  

Volksschullehrer und Psychologe Hans Zulliger. Repr. aus Schweizer Erziehungsrundschau, Dez. 1934.
Volksschullehrer und Psychologe Hans Zulliger. Repr. aus Schweizer Erziehungsrundschau, Dez. 1934.

Während seiner Seminarzeit in Hofwil lernte der angehende Volksschullehrer Hans Zulliger durch den Leiter Ernst Schneider (1878-1957), Mitbegründer der «Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik», die Tiefenpsychologie kennen. Dies führte ihn zu den Werken von Sigmund Freud, Alfred Adler, Carl Gustav Jung und dem Zürcher Pfarrer Oskar Pfister.

Zulliger: «1909 veröffentlichte Freud die ‚‹Analyse des kleinen Hans›, in der erstmals in der Geschichte der Psychologie und Medizin ein Kleinkind von einer Phobie geheilt und deren Ursache aufgezeigt wurde. Freud hatte bereits erfahren, dass die Ursachen bestimmter Neurosenformen in der frühen Kindheit liegen. Nun wollte er seine Kenntnisse direkt bei kindlichen Patienten anwenden. Freuds Arbeit war ein Vortasten in ein Gebiet, das bislang noch von niemandem betreten worden war. Sie sollte für zwei Disziplinen grundlegend werden: die psychoanalytische Kinderpsychologie und die psychoanalytische Pädagogik. Zunächst flossen sie noch ineinander.» [56] 

   

Von Pfister und Schneider beeinflusst, versuchte ich

die Psychoanalyse für die Volksschulpädagogik zu modifizieren.»

Hans Zulliger, Schweizer Erziehungs-Rundschau, Mai, 1956, S. 28

   

Pfarrer Oskar Pfister
Den Anstoss, sich ganz der Psychoanalyse zu widmen, erhielt Zulliger von Oskar Pfister, der mit Sigmund Freud und Carl Gustav Jung befreundet war. Der Pfarrer hatte den Moment nie vergessen, wie einer seiner Kameraden im Kindergarten während des Unterrichts eingeschlafen war und von der Lehrerin dafür bestraft und geschlagen wurde. Pfister: «Der schmerzliche Gesichtsausdruck des kranken Kindes, das sich über das Kleid der strengen Kindergärtnerin erbrach, liess mich nicht mehr los.»[23] Hans Zulliger: «Der Pfarrer, Seelsorger und Religionspädagoge Oskar Pfister erbrachte eine bemerkenswerte Leistung: Er verband christliche Liebe und Psychoanalyse miteinander. Er assimilierte die Freudschen Lehren und verband sie mit christlicher Liebe. Was von diesem Prozess nach aussen hin sichtbar wurde, sind Pfisters tiefenpsychologische Seelsorge und Pädagogik. Bereits um die Jahrhundertwende wies er darauf hin, dass die psychoanalytische Methode auch in die Pädagogik integriert werden könne. Er beschrieb ihre Wirkung anhand praktischer Beispiele aus seiner Tätigkeit mit kirchlichen Unterweisungsschülern. Er nannte seine Methode ‹Pädanalyse›, um sie von der Erwachsenentherapie abzugrenzen und anzudeuten, dass sie sich von der Methode Freuds unterscheide.»[56] Zulliger zählte Pfisters Buch «Die kindliche Liebe und ihre Fehlentwicklungen» (1922) zu dessen besten Werken.

  

Hans Zulliger gibt Unterricht in Ittigen. Foto: Burgerbibliothek Bern, Sig. N Eugen Thierstein 343 17, CC BY 4.0
Hans Zulliger gibt Unterricht in Ittigen. Foto: Burgerbibliothek Bern, Sig. N Eugen Thierstein 343 17, CC BY 4.0

Hans Zulliger wird Wegbereiter der Schulpädagogik
Als er 1912 Lehrer in Ittingen wurde, lernte er, wie jeder andere Volksschullehrer auch, sogenannte «Problemkinder» kennen. Mit herkömmlichen Erziehungsmethoden konnte man ihnen nicht helfen. Mittels eines gründlichen Selbststudiums vertiefte sich Hans Zulliger nun in die psychologische Literatur, vor allem in die Schriften Freuds. Dies befreite den jungen Lehrer vom erdrückenden Gefühl der Hilflosigkeit. Er erhoffte sich durch die Psychoanalyse «ein vertieftes Verständnis für die Kinderseele, denn seelische Störungen im Kindesalter sind sehr oft der Anfang bleibender Fehlentwicklungen.»[7] Zulliger: «Nach dem Vorbild Pfisters betrieb ich anfangs das, was als kleine psychoanalytische Kinderpsychotherapie bezeichnet wird. Dies geschah zu einer Zeit, in der die Psychoanalyse auch in der Schweiz heftig kritisiert wurde. Deshalb musste ich äusserst vorsichtig vorgehen. Ich arbeitete gänzlich im Stillen und befreite einzelne Schülerinnen und Schüler von störenden Symptomen wie Lernhemmungen, reaktiver Aggressivität und der Unfähigkeit, sich in die Gemeinschaft einzufügen.»[23] 

In seinem ersten Fall behandelte Hans Zulliger 1913 erfolgreich einen stotternden Schüler. Seine ehemalige Schülerin Ruth Brandalise erinnerte sich: «Nach mehreren psychoanalytischen Konsultationen ging er mit dem Jungen in den Mannenbergwald und forderte ihn auf nun alle gruseligen Wörter hinauszubrüllen. Der Junge hat danach nie wieder gestottert.» [25] Zulliger: «Es ging jedoch nicht nur darum, einzelne neurotisch affizierte Schüler zu heilen, sondern eine Art psychische Hygiene zu betreiben, von der die gesamte Schulklasse profitierte. Unter Berücksichtigung der Freudschen Lehren galt es, in der Klasse eine Atmosphäre zu schaffen, die neuroseprophylaktisch wirkte.» [66] Zulliger fasste einige seiner Heilungsgeschichten zusammen und trug sie bei Sitzungen der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse vor. In der Reihe Schriften zur Seelenkunde und Erziehungskunst erschienen dann zwei von ihm verfasste Bändchen.[7] 

Dr. Ursula Müller in der Schweizerischen Lehrerzeitung: «Zulliger war es ein besonderes Anliegen, dass Lehrer ein besseres tiefenpsychologisches Rüstzeug erhalten. Denn für schwierige Kinder sind oft psychisch belastete Erzieher verantwortlich. Auch psychische Krankheit ist ansteckend. Deshalb ist es besonders wichtig, dass Berufserzieher seelisch gesund sind. Hierin sieht Zulliger den wichtigsten Beitrag, den die Tiefenpsychologie der Pädagogik leisten kann, denn Erzieher sind – ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht – für die psychische Gesundheit der Gesellschaft weitgehend verantwortlich. Wie hoch Zulliger die Aufgabe des Volksschullehrers einschätzt, hat er dadurch unter Beweis gesteht, dass er sein Leben lang Schulmeister geblieben ist und seine wesentlichen Erfahrungen aus der Volksschulpraxis geholt hat.»[16] Hans Zulliger verfasste im Laufe der Jahre eine beachtliche Reihe psychologischer und pädagogischer Bücher und Aufsätze. Viele davon wurden in andere Sprachen übersetzt. Er hatte die Gabe, einfach und klar zu formulieren.[1] Die Schülerinnen und Schüler aus Ittigen lieferten das Rohmaterial für seine wissenschaftlichen Arbeiten. An öffentlichen Elternabenden sprach er über die Schwierigkeiten der Erziehung in der Schule und zu Hause.

  

«Jede Strafe ist letzten Endes ‹Gewaltanwendung›, und zwar aus Verlegenheit;
und mit Gewaltanwendung «erzieht» man nicht, man ‹dressiert› nur

Hans Zulliger, Eltern Zeitschrift, Oktober 1951

   

1921 erschien Zulligers erstes wissenschaftliches Werk «Psychoanalytische Erfahrungen aus der Volksschulpraxis». Der Pädagoge Albert Furrer (1889-1933): « Viele ernsthafte Pädagogen fragten sich, ob und inwieweit die Psychoanalyse in der Volksschule praktiziert werden dürfe. Die Meinungen gingen weit auseinander: Einige befürworteten sie bedingungslos, andere wollten sie nur als prophylaktisches Hilfsmittel des Lehrers gelten lassen und wieder andere lehnten sie als pädagogische Hilfsmethode scharf ab. Hans Zulliger hat sich ein grosses Verdienst erworben, indem er in dieser Diskussion nicht nur eine klare Stellung bezog, sondern auch gleich aufzeigte, wie die Psychoanalyse in der Volksschule angewendet werden kann und soll. Seine Schrift ist direkt aus der Schularbeit herausgewachsen.»[71] Zulliger berichtet in zwanzig kurzen Geschichten von seinen praktischen Erfahrungen mit der neuen Wissenschaft in seinen Schulklassen. Dabei verfolgte er nicht den Zweck, zu polemisieren. Vielmehr wollte er einen neuen Weg zum alten Ideal aller Erziehung und des Menschseins aufzeigen: Menschlichkeit. Er erkannte, dass in den Volksschulen das Erzieherische viel stärker betont werden sollte als die Vermittlung grosser Mengen wissenschaftlicher Inhalte. Durch das Studium der Psychoanalyse gelangte Zulliger zu einer neuen Einstellung gegenüber seinen Schülern. Zugleich änderten auch die Schüler ihre Einstellung zu ihm, als sie sahen, dass der Lehrer ihnen weniger als Richter, sondern vielmehr als verständnisvoller Helfer entgegentrat. Wie der Titel seines Erstlingswerks andeutet, ging es Zulliger darum, aufzuzeigen, wie die Freudsche Lehre von den unbewussten Seelenkräften für die Erziehung nutzbar gemacht werden kann.[3]

  

«Die in der Schweiz entstandenen Eltern- und Schulberatungsstellen
wären ohne die Lehren Freuds undenkbar gewesen.
»

Hans Zulliger, Schweizer Erziehungs-Rundschau, Mai, 1956, S. 28

   

Freud in der Gegenwart, Europäische Verlagsanstalt, Mannheim, 1957. Sammlung Nationalbibliothek Bern.
Freud in der Gegenwart, Europäische Verlagsanstalt, Mannheim, 1957. Sammlung Nationalbibliothek Bern.

Anhänger von Sigmund Freud
Hans Zulliger sagte über Sigmund Freud: «Er ist der Entdecker des Unbewussten in der menschlichen Seele. Er konnte nachweisen, dass es Charakter, Persönlichkeit, Verhaltensweise und sogar das Körperliche des Menschen weitgehend bestimmt. Sein Verfahren, um die unbewussten Bereiche und Kräfte sichtbar und erkennbar zu machen, nannte Freud ‹die Psychoanalyse›. Es ist also zunächst eine genau bestimmte psychologische Arbeitsmethode. Der Begriff ‹Psychoanalyse› bedeutet auch die ‹Lehre vom unbewussten Seelischen und dessen Theorie› sowie eine von Freud geschaffene Heiltechnik. Sie brachte zahlreichen Nervenkranken Linderung und Genesung. Die ärztliche Psychoanalyse war vor allem im Kampf gegen die sogenannten ‹Übertragungsneurosen› erfolgreich. Beispielsweise bei Zwängen wie Stottern, Stehlzwang oder Gedankenflucht, aber auch bei Menschen, die unter Ängsten leiden, wie Gewitterangst, Examensangst oder Platzangst. Bei Menschen, deren seelische Konflikte sich in körperliche Krankheitszeichen umwandeln, ohne dass sie die Zusammenhänge erkennen, war die Psychoanalyse ebenfalls erfolgreich. Beispiele hierfür sind Schreibkrampf, Migräne, nervöse Magen-, Darm- und Herzstörungen, Lähmungen und Funktionshemmungen der Gliedmassen sowie Hysterie. Die Lehre vom Unbewussten hat jedoch nicht nur die ärztliche Kunst praktisch weitergebracht, sondern auch die Pädagogik massgeblich beeinflusst. Sie revolutionierte alle Geisteswissenschaften und gab ihnen neuen Ansporn. Selbst seine Gegner sind ihm zu Dank verpflichtet, da er sie zu schöpferischem Denken anregte. Freuds schriftlich niedergelegtes Lebenswerk umfasst ein Dutzend dicke Bände im Lexikonformat und bildet die Grundlage für das Wissen, das seine Gefolgsleute erwerben müssen. Am bekanntesten ist wohl seine Traumdeutung geworden, die es dem Kundigen ermöglicht, den verborgenen Sinn von Träumen zu erkennen. Die von Freud gegründete Internationale Vereinigung für Psychoanalyse hat Landesgruppen in allen Kulturkreisen und auf allen Kontinenten.»[67]  

Aus dem unbewussten Seelenleben unserer Schuljugend, Ernst Bircher Verlag, Sammlung Nationalbibliothek Bern
Aus dem unbewussten Seelenleben unserer Schuljugend, Ernst Bircher Verlag, Sammlung Nationalbibliothek Bern

Hans Zulligers erstes Buch «Psychoanalytische Erfahrungen aus der Volksschulpraxis» erweckte das Interesse von Sigmund Freud, dem «Vater der Psychoanalyse», in Wien. Zulliger lernte Freud auf dem Berliner Kongress der internationalen Psychoanalytischen Vereinigung persönlich kennen. Auf dessen Einladung hin suchte er ihn anlässlich von Vorträgen in Wien zu Gesprächen auf.[28] Freud trat mit Zulliger in Briefwechsel, der bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs nie abriss. Über seinen Freund Sigmund Freud schrieb er: «Als Forscher hat niemand die Wissenschaft stärker revolutioniert als Freud, der die Psychoanalyse entdeckte. Seine Lehre wurde zunächst totgeschwiegen, dann mit allen Mitteln der Lächerlichmachung und des Hasses abgelehnt und verfolgt. Heute hat Freud einen grossen Kreis von Anhängern in allen Kulturkreisen gefunden. Zu den Ersten gehörten die Schweizer, die sich zur Schweizerischen Psychoanalytischen Gesellschaft zusammenschlossen, einer Art beruflicher Innung, die einen Teil der Internationalen Vereinigung für Psychoanalyse ausmacht.»[12] 

Im Geiste Freuds erschien 1923 Zulligers zweites Buch «Aus dem unbewussten Seelenleben unserer Schuljugend». Kritische Reaktionen blieben nicht aus. Die Kölnische Zeitung (29. 9. 1925): «Manch ein Lehrer oder Erzieher, der zum ersten Mal von der Psychoanalyse als Methode seelischer Forschung hört, wird den Einwand parat haben: Das alles ist ja theoretisch gut und schön, aber es taugt nicht für die pädagogische Praxis. Wie sollte beispielsweise ein Lehrer, der eine Klasse mit 30 bis 40 Schülern unterrichtet, die Zeit finden, jeden Schüler, der ein unerklärliches Verhalten zeigt, durchzuanalysieren? Und würde es der weichen kindlichen Seele nicht mehr schaden als nutzen, wenn in ihrem Unbewussten herumgewühlt wird?»

Unbewusstes Seelenleben, Verlag Francke, Stuttgart 1924. Sammlung Nationalbibliothek Bern.
Unbewusstes Seelenleben, Verlag Francke, Stuttgart 1924. Sammlung Nationalbibliothek Bern.

In «Unbewusstes Seelenleben - Die Psychoanalyse Freuds in ihren Hauptzügen» stellte sich Hans Zulliger der schwierigen Aufgabe, das vielfach angefochtene und mit Misstrauen kritisierte Thema allgemeinverständlich und anschaulich darzustellen. Zulliger war einer der Autoren der von Sigmund Freud herausgegebene Zeitschrift «Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften», die von 1912 bis 1937 vierteljährlich in Wien und Leipzig erschien.[38]   Unter der «Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik» entstand 1926 eine psychoanalytisch-pädagogische Bewegung, deren Mitglieder sich untereinander austauschten. Die Zeitschrift wurde in Wien von den Schweizern Heinrich Meng und Ernst Schneider herausgegeben. Zu den Mitwirkenden gehörten neben Hans Zulliger auch Anna Freud (1895–1982), Wilhelm Reich (1897-1957) und August Aichhorn (1878–1949). Die Zeitschrift löste sich 1937 unter der nationalsozialistischen Herrschaft auf.

Anlässlich des 100. Geburtstags von Sigmund Freud hielt Zulliger 1956 eine Rede an der Frankfurter Universität. Auf Einladung der Philosophischen Fakultät hielt er drei Vorträge und ein Kolloquium zum Problemgebiet «Psychoanalyse und Pädagogik». Alle vier Veranstaltungen des Pädagogen waren sehr gut besucht und stiessen bei dem Lehrkörper und den Studierenden der Universität sowie anderen interessierten Teilnehmenden aus dem Publikum auf grosse Zustimmung.

 

Ein mustergültiges Erziehungssystem?
Hans Zulliger: «Ich hatte eine der Schweizer Zwangserziehungsanstalten besucht, deren Leitung im ganzen Land als mustergültig gilt. Der Direktor erklärte, dass es vorkomme, dass sich ein Angestellter nicht mehr beherrsche und einem Schlingel eine Ohrfeige austeile. Er habe hier die sogenannten ‹blauen› und ‹dunklen› Zellen. Wir traten nun in diese Zellen, die wenig Licht hatten und komplett in Blau gehalten waren. Der Direktor erzählte, dass er einen Jungen gewöhnlich für ein paar Tage hier einsperrt und sich selbst überlässt. In der Regel meldet er sich dann freiwillig zur Arbeit. Er hält die Einsamkeit auf die Dauer nicht aus. In den blauen Zellen darf weder gelesen noch sonst etwas getan werden. Die einzige Abwechslung ist das Essen. Wenn dies nichts nützt, kommt er in eine der Dunkelkammern. Diese wurden uns auch gezeigt. Es handelte sich um fensterlose, kleine Räume ohne Möbel, in denen sich lediglich ein Kotkübel und ein paar Wolldecken befanden. Uns wurde auch erklärt, dass die Insassen der Dunkelkammer nur reduziertes Essen erhielten – nach dem Grundsatz: ‹Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!›. Der Direktor wies darauf hin, dass ein Junge nach drei Tagen weinend erklärte, er wolle arbeiten, egal was. Der Direktor hat das Erziehungsmittel gefunden, das in allen Fällen wirkt. Manche werden durch diese Erfahrung für ihr ganzes Leben abgeschreckt. Ich bin dazu kritisch eingestellt.» [60]  Zulliger wollte verhindern, dass sogenannte «schwierige Kinder» später in eine Erziehungsanstalt kamen. Er war der Meinung, dass man sie durch geeignete pädagogische, heilerzieherische und psychotherapeutische Massnahmen positiv beeinflussen konnte. Wichtig war es, stets die Ursachen psychischer Störungen zu ergründen. Dafür musste das nötige Fachpersonal geschult werden.

  

Die Erlernung der Psychoanalyse
Da die medizinische Psychoanalyse feststellte, dass die Ursachen von Neurosen fast ausschliesslich in der frühen Kindheit zu suchen sind, lag es nahe, auch die Erziehung des Kindes nach psychoanalytischen Prinzipien zu gestalten. Dies bedingte eine neue Einstellung in der Pädagogik. Zulliger, der die psychoanalytischen Schriften über Individual- und Massenpsychologie kannte, vertrat die Idee der Gemeinschaftsschule. 1924 besuchte er den 8. psychologischen Kongress der Freud-Schüler in Salzburg. Zulliger: «Die Schweiz war durch zehn Mitglieder vertreten, die sich aus Kreisen der Psychiater, Neurologen und Pädagogen rekrutierten.  Sie referierten über die Fortschritte der Psychoanalyse.» Zulliger machte auf die Ausbildung zum Psychoanalytiker aufmerksam: «Freud durfte erleben, dass seine Lehre in Wien Fuss gefasst hat. Die Befürchtung, die er einst in einer pessimistischen Stunde aussprach, nämlich dass seine Lehre zum Untergang bestimmt sei, weil die Menschheit sie nicht ertragen wolle, ist nicht eingetroffen. Während das Psychoanalytische Ambulatorium in Wien wächst, bewältigte die Berliner Psychoanalytische Poliklinik und Lehranstalt in letzter Zeit täglich 80 Analystenstunden und musste zahlreiche Patienten an Privatärzte verweisen, da der Andrang zu gross war. Die Lehr- und Unterrichtstätigkeit des Berliner Instituts umfasst die theoretische und praktische Ausbildung in der Psychoanalyse, die Förderung der psychoanalytischen Forschung und die Verbreitung psychoanalytischer Kenntnisse. Ausserdem hält die Lehranstalt psychoanalytische Kurse für Nichttherapeuten zu allgemeinen Bildungszwecken ab.»[51]  
Nach dem Vorbild Wiens und Berlins wurde einige Jahre später auch die Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse SGPsa zu einer Ausbildungsstätte für praktische Analytiker. Hans Zulliger über die damaligen Verhältnisse: «Wer sich als Nichtmediziner als praktizierender Psychoanalytiker betätigen wollte, musste die von der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse vorgeschriebene Spezialausbildung absolvieren. Anschliessend musste er sich von analysekundigen Medizinern die Patienten auswählen lassen, die für die Behandlung durch Laien-Analytiker als geeignet erschienen. Die Arbeit erfolgte unter der Kontrolle des Arztes. Diese Vorschriften erließ die SGPsa einerseits, um der Kurpfuscherei entgegenzuwirken, andererseits aber auch, um diejenigen unter den nichtmedizinischen Psychoanalytikern zu schützen, die die vorgeschriebenen Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen erfüllen. Die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen der Laienanalytiker (der Psychoanalytiker überhaupt) wurden vom Unterrichtsausschuss der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung festgelegt. Die Kontrollstelle in der Schweiz ist der Landes-Unterrichtsausschuss der SGPsa.»[64]
Hans Zulliger bildete mehrere bekannte Psychologinnen und Psychologen aus, darunter sein Bruder Walter. Dieser besuchte in Biel ebenfalls das Progymnasium, das sich allerdings nicht mehr im Dufourschulhaus befand. Er schloss seine Studien 1935 an der Universität Bern mit dem Staatsexamen für das höhere Lehramt in den Hauptfächern Mathematik und Physik sowie den Nebenfächern Versicherungslehre und Pädagogik ab. Studienhalber vertiefte Walter sich 1932 in Wien in die Jugendpsychologie Charlotte Bühlers und lernte dabei die von der Schweiz aus stark frequentierte Wiener Schule näher kennen. Anschliessend liess er sich bei seinem Bruder Hans in die praktische Psychologie, Erziehungsberatung und Testmethoden einführen. Er wurde Lehrer und Jugenderzieher und war ab 1946 Direktor des kantonalen Unterseminars Küsnacht. Walter Zulliger lehnte jegliche Form von körperlicher Bestrafung ab. 
Die in Stuttgart geborene Psychologin Margarete Andina-Heim (1927-1992) absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Kindergärtnerin und bildete sich anschliessend bei Hans Zulliger zur Psychologin weiter. Danach hielt sie im Engadin Vorträge zu erzieherischen und psychologischen Fragen. Auch die Psychotherapeutin und Erziehungsberaterin Monica Winkler gehörte zu Zulligers Schülerinnen. Anstelle des verstorbenen Zulliger hielt sie am 10. Januar 1966 im Naturhistorischen Museum Bern den Vortrag «Die Familie im Wandel der Sozialstruktur».

  

«Die Gesellschaft für Psychoanalyse arbeitet intensiv am Ausbau der Freudschen Lehren mit..»

Hans Zulliger, Berner Schulblatt, Bern, 23. 8. 1924, S. 282

   

Sekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (SGPsa)
Barbara Handwerker Küchenhoff: «Neben Wien, dem Wirkungsort Freuds, war Zürich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der wichtigste Ort für die Rezeption und Ausbreitung der Psychoanalyse. Freud selbst dachte daran, ihren Mittelpunkt hierher zu verlegen. In einem Brief an C. G. Jung von 1910 schrieb er, dass sich unter dem Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli, Eugen Bleuler, eine Gruppe von Ärzten zusammengefunden hatte, die sich in ihrer klinischen Arbeit engagiert mit der Psychoanalyse auseinandersetzten.»[63]  

Am 24. März 1919 erfolgte in Zürich die Gründung der «Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse» (SGPsa) als legitimer Landeszweigverein der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die auch als «Freud-Gesellschaft» bezeichnet wird. Emil Oberholzer war Präsident und Herrmann Rorschach, der 1922 im Alter von nur 38 Jahren verstarb, Vizepräsident.  Zu den 11 Gründungsmitgliedern zählten unter anderem Oskar Pfister und die Kinderanalytikerin Dr. Mira Oberholzer-Gincburg (1884-1949), der Zulliger sein Buch «Aus dem unbewussten Seelenleben unserer Schuljugend» widmete. Die in Russland geborene Schweizer Ärztin und Psychoanalytikerin gilt als Pionierin der Psychoanalyse im Allgemeinen und der Kinderpsychologie im Besonderen. Die Gesellschaft unterhält heute an verschiedenen Orten in der Schweiz Ausbildungszentren für Psychoanalytiker. In Bern ist es das im Jahr 2000 gegründete Freud-Zentrum (FZB). Eine Mitgliedschaft in der Gesellschaft ist nur nach einer vierjährigen Zusatzausbildung zu einer Grundausbildung (in der Regel ein akademisches Studium der Medizin oder Psychologie) und nach Einreichen einer wissenschaftlichen Arbeit bei der Gesellschaft möglich.
Im Freud-Zentrum ist auch die Blum-Zulliger-Stiftung untergebracht, die von Kaspar Weber, Mitglied des Freud-Zentrums, gegründet wurde. Unabhängig vom Freud-Zentrum fördert sie die Psychoanalyse, indem sie Bücher und Veranstaltungen finanziell unterstützt und Ausbildungen genehmigt. Der Psychiater und Neurologe Ernst Blum (1892-1981), Schüler von Sigmund Freud und Hans Zulliger sind die Berner Pioniere der Psychoanalyse. Sie waren miteinander durch ihre aktive Mitgliedschaft im Vorstand der SGPsa und dem Interesse zu Freund verbunden. Blum leitete von 1923 bis 1929  in Bern eine von ihm gegründete psychoanalytische Arbeitsgruppe, an der neben Hans Zulliger auch die SGPsa-Mitglieder Max Müller (1894-1980) und Arnold Weber (1894-1976) teilnahmen. 

   

Gedenktafel von Mitgliedern der Schweizerischen Psychoanalytischen Gesellschaft im Freud-Zentrum Bern. Von links nach rechts: Ernst Blum , Max Müller, Arnold Weber und Hans Zulliger.


Der Psychiater und Analytiker Dr. med. Josef Schiess ist Mitglied des Stiftungsrats der Blum-Zulliger-Stiftung. Ehemals im Vorstand des Freud-Zentrums, verwaltet er als Mitglied der SGPsa das dort befindliche Archiv und die umfangreiche Bibliothek. Er gibt allen Besuchern gerne Auskunft zu historischen und modernen Themen. Unter anderem finden Interessierte die Zeitschriftensammlung  «Psyche», in der Zulliger mehrere Artikel veröffentlichte, seine handgeschriebenen «Sitzungsprotokolle von 1928 bis 1934» der SGPsa, sowie eine Erinnerungstafel, auf der er zusammen mit drei weiteren Pionieren der Psychoanalyse verewigt ist. Die Sammlung gibt den Besuchern einen aufschlussreichen Überblick über die Weiterentwicklung und den Fortschritt der Psychoanalyse. Zulliger sagte stets, das Forschen darüber dürfe nie still stehen. Zulliger: «Wenngleich die Lehren Freuds in erheblichem Masse auf die allgemeine Pädagogik eingewirkt hatten, waren sie in Bezug auf die Erziehung noch lange nicht voll ausgeschöpft. Die ist eine Aufgabe für die Zukunft. Erst dann wird sich zeigen, was Freud für die Pädagogik geleistet hat.»[66] Historisch interessant ist auch die Beziehung der SGPsa zu Sigmund Freud. Er begrüsste die Gründung in Zürich sehr, da die Psychoanalyse dadurch in der Schweiz auf fruchtbaren Boden fiel. 

Sitzungsprotokoll 1928 bis 1934. Sammlung Blum-Zulliger Stiftung, Freud-Zentrum, Bern.
Sitzungsprotokoll 1928 bis 1934. Sammlung Blum-Zulliger Stiftung, Freud-Zentrum, Bern.

Hans Zulligers SGPsa-Sitzungsprotokolle
Auf Initiative von Oskar Pfister wurde Zulliger 1919 Mitglied der SGPsa. Emil Oberholzer, der von 1919 bis 1928 deren erster Präsident war, stand in brieflichem Kontakt zu Freud. Für Oberholzer waren sowohl Hans Zulliger als auch Oskar Pfister lediglich Laienanalytiker und somit keine vollwertigen Mitglieder der SGPsa. Dies, obwohl ein Briefwechsel belegte, dass Oberholzer bei Pfister in Analyse ging. 1928 kam es zum Bruch mit der SGPsa und Oberholzer gründete die «Gesellschaft für ärztliche Psychoanalysen», in der ausschliesslich Mediziner zugelassen waren. Zulliger lehnte das Angebot, als «pädagogischer Mitarbeiter» dabei zu bleiben, gekränkt ab. [68] Freud unterstützte jedoch weiterhin die Laienanalyse. Die neue Vereinigung löste sich bereits nach zehn Jahren wieder auf, da Oberholzer in die Vereinigten Staaten auswanderte. Einige seiner Mitglieder traten anschliessend in die SGPsa ein. Als Schriftführer besorgte er Zulliger die Sitzungsprotokolle der SGPsa. In seinem handgeschriebenen «Protokoll 1928 bis 1934» erfahren wir, dass er auch  Sekretär und Rechnungsrevisor war. Das Protokoll nennt 1928 folgende Vorstandsmitglieder:

Dr. med Philipp Sarasin (Basel), Präsident
Dr. med. Hans Behn-Eschenburg (Küsnacht)
Dr. med. Blum-Sapas (Bern), Kassier

   

Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich
Hans Zulliger (Ittigen), Sekretär

  


Dr. med. Arthur Kielholz kann an der Sitzung nicht teilnehme. Postkarte aus der Sammlung Blum-Zulliger Stiftung, Freud-Zentrum, Bern.
Dr. med. Arthur Kielholz kann an der Sitzung nicht teilnehme. Postkarte aus der Sammlung Blum-Zulliger Stiftung, Freud-Zentrum, Bern.

Zu den deutsch- und französischsprachigen Vereinsmitgliedern gehörten u.a. der Psychiater Max Müller (1894-1980), der Medizinstudent Arnold Weber (1894-1976)  und ab dem 7. Juli 1931 Martha Zulliger. Mit Mathias Hefti-Gysi (1894-1961) war Zulliger eng befreundet. Einige Mitglieder gehörten gleichzeitig der «Société française de psychanalyse» an. Die Sitzungslokale befanden sich in Zürich an der Steinmühlegasse 1, an der Hottingerstrasse 25 und im Hotel Habis. Ein Grossteil der Mitgliederbeiträge wurde für die Anschaffung von Zeitschriften und Büchern für die Vereinsbibliothek verwendet. Zur Pflege der Gemütlichkeit und er persönlichen Beziehungen unternahm die Gesellschaft Ausflüge. Zulliger hatte sich in dieser freundschaftlichen Atmosphäre immer sehr wohl gefühlt.[65] Ein Thema das Anfang 1928 rege diskutiert wurde, war die Gründung von Oberholzers «Gesellschaft für ärztliche Psychoanalysen», die bei einigen für Verwirrung sorgte. Im selben Jahr wurde erstmals ein Unterrichtsausschuss geschaffen. In der Gesellschaft hatte Hans Zulliger die Möglichkeit, sein Wissen durch wissenschaftliche Diskussionsrunden zu erweitern und sich mit Experten der Psychologie auszutauschen. Die Vortragsthemen, an denen er mit zahlreichen Gästen aus dem In- und Ausland teilnahm, befassten sich mit Medizin, Pädagogik, Ethnologie und der Theorie der Psa. Zu den Vortragenden gehörten:

Dr. med. Philipp Sarasin (1888-1968), SGPsa-Präsident von 1928 bis 1961
Psychoanalytischer Beitrag zu Goethes Mignon (4. 2. 1928)

 

Dr. med. Arthur Kielholz (1879-1962), Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Königsfelden
Von Heeren und Führern (16. 3. 1928)
Tell und Parricida (28. 3. 1931) 


Dr. Ernst Blum (1892-1981), Nervenarzt
Ein Traum und ein Witz (28. 4. 1928)
Mitteilung über eine Analyse einer Erythrophobie (9. 2. 1929) 
Widerstand gegen die Irren- und Pflegeanstalten (4. 6. 1929)
Zur Psychologie der Rauschgiftsüchtigen (14. 6. 1930) 


Dr. Harnick, aus Berlin
Das Problem der religiösen Konflikte in der analysegebenden Therapie (9. 6. 1928) 
Die Ausbildung der Pädagogen in der Psa, wie sie am Deutschen Lehrinstitut in Berlin betrieben wird (15. 6. 1928)
Der Widerstand in der Traumdeutung (15. 6. 1928) 


Pfarrer Oskar Pfister
Wesen und Bereich der Psychoanalyse (24. 10. 1928) 
Intuitive Psychoanalyse der Navajo-Indianer (29. 11. 1930)
Aus der Psychoanalyse eines jugendlichen Gewohnheitsdiebes und Totschlägers (24. 1. 1931)
Die Rolle der Angst in der Religionsbildung (1. 10. 1932)

Dr. med. Hans Christoffel (1888-1959), Nervenarzt und Psychiater
Fetischismus (8. 12. 1928) 


 Dr. Hans Behn-Eschenburg (1893-1934), Psychiater
Über eine besondere Art von Widerstand (18. 1. 1930) 


Dr. Getrud Behn-Eschenburg (1896-1977), Psychiaterin
Die Beziehung zwischen Psa und Pädagogik (27. 3. 1930)
Ein Kindertraum. Beobachtungen zur Rolle kindlicher Verdrängungsarbeit (20. 2. 1932) 


Raymond de Saussure (1894-1971), Psychoanalytiker, SGPsa-Präsident von 1961 bis 1967
Le mircale grec (21. 2. 1931)

 

Germaine Guex (1904-1984), Psychologin und Psychoanalytikerin
Aus der Praxis des Service médico-pédagogique (7. 6. 1931)


Dr. med. Gustav Bally (1893-1966), Psychiater
Die biologischen Voraussetzungen der frühkindlichen Persönlichkeitsentwicklung (6. 5. 1933) 


Dr. med. Henri Flournoy (1866-1955), Pionier der Psychoanalyse in der Suisse romande
Les hallucinations (9. 12. 1933) [65]

  

  


Vorträge für die SGPsa
Vom 30. Juli bis 6. August 1921 war er Sprecher beim SPGsa-Ferienkurs in Sundlauen. Die Hauptthemen dieses Kurses waren Einführung in die Psychoanalyse, Erziehung zur Persönlichkeit und Volkswirtschaft.[9] Am 9. November 1923 sprach er in der SPGsa über das Thema Pubertät. Am 25. Februar 1928 hielt er den Vortrag Zur Psychologie eines Kinderunfalles. Zulliger: «Ein Schuljunge quetscht sich an einer Handdreschmaschine einen Finger ab und zeigt nachher Zeichen einer neurotischen Reaktion auf den Unfall. Eine Untersuchung zeigt, dass der Unfall mit grosser Wahrscheinlichkeit von unbewussten Schuldgefühlen verursacht wurde, dass er eine Selbstbestrafung bedeutet. Freud erwähnte einen gleichen Zwecken dienenden Unfall in seiner ‹Psychopathologie des Alltagslebens›. Es stellt sich die Frage, ob die Unfälle nicht häufig einer Sühnetendenz entgegenkommen und daher als Anzeichen einer bereits begonnenen neurotischen Erkrankung gewertet werden müssen.»

1928 organisierte die Gesellschaft im Singsaal des Progymnasiums Bern einen Vortragszyklus über Psychoanalyse. Dort sprach Zulliger am 27. Juni und 4. Juli 1928 über Psychoanalyse und Pädagogik und Psychoanalyse und Erziehung.  Im Vortrag Psa und Führerschaft in der Schule (20. 4. 1929) erklärt Zulliger: «Gestützt auf Freuds Äusserungen über die Psychologie der Massen wird die Stellung des Lehrers in seiner Klasse als Masse diskutiert. Es wird herausgesucht, wie er sich zu verhalten hat, damit die Bildung einer Gemeinschaft unter seiner Führung möglich wird.» In Teufelsdreck, die Arznei (9. 5. 1931) wurde das Thema Krankheit und Heilung anhand von kulturgeschichtlichen und völkerkundlichen Materialien geschildert. Ein Diebskleeblatt (7.2.1931) handelte von 14-jährigen Jungen, die sich zu einer Diebesbande zusammenschlossen. An der Sitzung vom 31. 10. 1931 die im Zürcher «Gotthard» stattfand, befand sich unter den zahlreichen Gästen Dr. Sigmund Freud aus Wien. In einer kurzen geschlossenen Sitzung wurde eine Einladung zur Einweihung der Geburtshaustafel Freuds in Freiberg (Mähren) bekannt gegeben. Im Referat Prophetische Träume (14. 11. 1931) untersuchte Zulliger, ausgehend von Freuds Vorurteil über dieses Thema, die Grundlagen der «Wahrträume» und kam zum gleichen Schluss wie Freud, dass diese angeblich prophetischen Träume nichts Prophetisches haben.[65] Als die SPGsa am 23. Februar 1957 im Bahnhofbuffet Zürich eine Gedenkfeier für Oskar Pfister veranstaltete, sprach Zulliger über Oskar Pfister, die Psychoanalyse und die Pädagogik

Weitere Vorträge von Hans Zulliger (Auswahl): Der Lötschentaler Tschäggättä Maskenbrauch (24. 4. 1928), Über Verschiebung einer Gewissensreaktion (1928), Über eine orthographische Hemmung (8. 2. 1930), Ein Schwererziehbares Kind wird nacherzogen (22. 2. 1930). Über Angstvermehrung mit der Schundliteratur (21. 1. 1933)[65]

1963 feierte die SPGsa unter dem Vorsitz ihres Mitbegründers Dr. med. Raymond de Saussure (1894-1971), im Hotel Bellevue in Bern Zulligers 70. Geburtstag. Der renommierte Kinderanalytiker Jacques Berna (1911-2000) würdigte in seinem Referat «Kinderanalyse und Erziehung» die enorme Förderung, die Pädagogik und Kinderpsychotherapie durch Zulliger erfahren haben.[49]

  

«The Swiss school teacher and psychoanalyst Hans Zulliger was one of the most influential educational
professionals in the psychoanalytical tradition after Freud. His study Gelöste Fesseln was translated
into Swedish as Gör oss Fria (Set Us Free, 1930), which indicates the extent of interest in his work.
»

Camilla Skovbjerg Paldam in «Utopia», De Gruyter, Göttingen, 2015, S. 420

   

Gelöste Fesseln, Huhle Verlag, Dresden 1927. Sammlung Nationalbibliothek Bern.
Gelöste Fesseln, Huhle Verlag, Dresden 1927. Sammlung Nationalbibliothek Bern.

In seinem dritten Buch «Gelöste Fesseln» (1927) entwirrte Hans Zulliger die seelischen Verwirrungen und Verwundungen seiner Schüler. Der Grundton dieses Werkes ist die Erziehung zur Gemeinschaft und das liebevolle Einfühlen in die Seele des Kindes. Es erschien in der von Prof. Dr. Johannes Kühnel herausgegebenen Sammlung «Künftige Ernten, Saat- und Wachstumsberichte von neuer Erziehung» in Dresden.[5] Zulliger schrieb darin: «Eine der beliebtesten Arten, zu strafen, sowohl im Elternhaus als auch in der Schule, ist die vermehrte Arbeit. Das Kind muss ‹zur Strafe› noch dies und jenes tun, während seine Geschwister spielen dürfen. Der Schüler hat nachzusitzen oder sogenannte Strafaufgaben zumachen. Diese Strafart betrachte ich als gänzlich verfehlt und unheilvoll. Denn sie befestigt das Gefühl, dass Arbeit eine Strafe sei. Wir wollen das Kind arbeiten lehren, es soll lernen, Freude an der Arbeit zu haben, damit es sie gerne und schliesslich ungeheissen vollbringt. Wir preisen ihm die Arbeit an in allen Tonarten und dann benutzen wir sie als Strafe. Wie leicht fällt es dem Kind, das so gerne alles verallgemeinert, dann, die Arbeit überhaupt als Strafe aufzufassen!»

Erziehungsberater und Kursleiter
Seine drei Bücher und die vielen Aufsätze hatten ihm vor allem im Ausland den Ruf eines vorbildlichen und erfolgreichen Erziehers eingetragen. Nun folgten Einladungen zu Kongressen, Tagungen und Kursen, die Zulliger unter anderem nach dem Elsass, Stuttgart (1927), Wien, Budapest (1931), Prag, Oxford und Helsingør führten.[10] So nahm er 1927 an der Pädagogischen Woche zur Einführung in die psychoanalytische Pädagogik für Erwachsene, Lehrer und Ärzte in Stuttgart teil. Dort hielt er zwei Vorträge, unter anderem über «Psychoanalytische Erziehungsberatung und Erziehungshilfe“ und über «Die Führung einer Volksschulklasse nach psychoanalytischen Grundsätzen.» Zulliger: «Beim Schüler muss das Verständnis für den Sinn seiner Fehlhandlungen geweckt werden. Eine Gewissenserziehung muss die Strafe ersetzen.» Allerdings besassen nur wenige Lehrer das Geschick und die Kühnheit eines Hans Zulliger, um in einer Schule wirkliche Kleinanalysen durchzuführen. Die meisten Lehrer sahen sich mit hilfsbedürftigen Schülerinnen und Schülern konfrontiert, ohne ihnen ein rettendes Seil zuwerfen zu können. Aus dieser Situation heraus schlug Oskar Pfister 1927 in der neu gegründeten Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik vor, einen Schülerberater einzuführen. Dieser sollte den Kindern in allen seelischen Schwierigkeiten unentgeltlich zur Verfügung stehen. 
1928 gab Zulliger im Schulhaus Ittigen Erziehungskurse. Im gleichen Jahr hielt er in Zürich im Singsaal der Höheren Töchterschule den Vortrag «Psychoanalyse und moderne Pädagogik». In der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik schrieb er im Juni 1929 die «Analyse eines Zwangslügners». 1929 folgte im Schulkapitel Zürich das Referat über «Psychoanalyse und Führerschaft in der Schule». 1933 sprach er in Aarau bei der Tagung des «Vereins für Heimerziehung und Anstaltsleitung» über «Psychoanalytische Hilfe bei schwierigen Erziehungsfällen». Ebenfalls 1933 untersuchte er die Hulligerschrift mit psychologischen Mitteln und stellte dabei die Frage: «Entspricht die Hulligerschrift als Lehrvorlage für die Jugend den Tendenzen und den Anforderungen eines seelisch vollentwickelten Menschen?»[6]

  

Zulliger auf der «schwarzen Liste» der Nationalsozialisten
Am 10. Mai 1933 führten die Nationalsozialisten in Deutschland die Bücherverbrennung durch. Verboten waren unter anderem die Bücher von Alfred Einstein, Sigmund und Anna Freud, sowie Hans Zulligers pädagogisches Werk «Aus dem unbewussten Seelenleben unserer Schuljugend» (Bern, 1923).[50] 

  
Betreuer schwer erziehbarer Kinder
Hans Zulliger erhielt zahlreiche Anfragen aus dem In- und Ausland, ob er besonders schwer erziehbare Kinder in seiner Familie aufnehmen würde. So betreute er neben seinen eigenen drei Kindern im Laufe vieler Jahre insgesamt 14 schwer erziehbare «Sürmel» aus den verschiedensten Ländern, die er im Durchschnitt drei Jahre lang in seinem Haus aufnahm. Als Frucht dieser Erziehungsarbeit erschien 1935 das Buch «Schwierige Schüler», das von den Nationalsozialisten ebenfalls verboten wurde.[10] Am 4. März 1936 sprach Zulliger in Aarberg bei einem öffentlichen Elternabend über «Der Schulüberdruss der Kinder und seine Bekämpfung».

  


 Quellen/Sources: 1)